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Bevor wir kamen, hatten alle Methoden des Lernens den Makel des Instinkts. Bevor wir kamen, hatten instinktgetriebene Forscher nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne – die oftmals nur ein einziges Leben umfasste. Projekte, die sich über fünfzig oder mehr Generationen erstrecken, kamen ihnen niemals in den Sinn. Die Vorstellung des totalen Muskel-Nerven-Trainings war noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Wir haben gelernt zu lernen.
Das Azhar-Buch der Bene Gesserit
Ist dies wirklich ein besonderes Kind? Die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam beobachtete das Mädchen mit den perfekten Proportionen, das auf dem Hartholzboden der Mütterschule seine Muskeln und Nerven mit Prana-Bindu-Übungen trainierte.
Mohiam, die vor kurzem vom vorzeitig abgebrochenen Bankett auf Arrakis zurückgekehrt war, bemühte sich, ihre Schülerin unvoreingenommen zu beobachten und die Wahrheit zu unterdrücken. Jessica, meine leibliche Tochter ... Das Mädchen durfte nie etwas über seine Herkunft erfahren, es durfte niemals auch nur den leisesten Verdacht hegen. Selbst in den geheimen genealogischen Listen der Schwesternschaft war Mohiam nicht mit ihrem Bene-Gesserit-Namen, sondern ihrem Geburtsnamen ›Tanidia Nerus‹ aufgeführt.
Die zwölfjährige Jessica stand kerzengerade mit herabhängenden Armen da und versuchte sich zu entspannen, die Bewegung jedes Muskels in ihrem Körper zum Stillstand zu bringen. Sie hielt eine nicht vorhandene Klinge in der rechten Hand und starrte auf einen ebenso imaginären Gegner. Sie zapfte tiefe Quellen des inneren Friedens und der Konzentration an.
Doch Mohiams scharfe Augen bemerkten ein minimales Muskelzucken in Jessicas Waden, an ihrem Hals und über einer Augenbraue. Sie würde noch viel Übung benötigen, um die Technik zu perfektionieren, aber das Kind hatte bereits große und vielversprechende Fortschritte gemacht. Jessica besaß große Geduld, die Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen und auf das zu hören, was man ihr sagte.
Sie ist so konzentriert ... und hat so viel Potenzial. Wie es vom Zuchtprogramm vorhergesagt wurde.
Jessica führte einen Scheinangriff nach links aus, wirbelte herum – und erstarrte wieder zu einer Statue. Ihre Augen blickten zwar in Mohiams Richtung, sahen ihre Meisterin und Mentorin jedoch nicht.
Die Ehrwürdige Mutter betrat ernst das Trainingsmodul, schaute dem Mädchen in die klaren grünen Augen und sah darin eine Leere – als wären es die Augen einer Leiche. Jessica hatte sich völlig zurückgezogen und sich zwischen ihren Nerven- und Muskelfasern verloren.
Mohiam befeuchtete einen Finger und hielt ihn dem Mädchen unter die Nase. Sie spürte nur eine winzige Luftbewegung. Die knospenden Brüste des schlanken Oberkörpers waren völlig reglos. Jessica stand kurz vor der vollständigen Bindu-Suspension ...
Aber es war noch viel harte Arbeit nötig.
In der Schwesternschaft gab man sich nur mit absoluter Perfektion zufrieden. Als Jessicas Ausbilderin würde Mohiam immer wieder die uralte Routine mit ihr durchgehen und alle nötigen Schritte kritisch überprüfen.
Die Ehrwürdige Mutter zog sich zurück und musterte Jessica, ohne sie aus ihrer Konzentration zu reißen. Im Gesicht des Mädchens versuchte sie ihre eigenen Züge oder die ihres Vaters, Baron Wladimir Harkonnen, wiederzuerkennen. Der lange Hals und die kleine Nase waren Mohiams Erbe, aber der hohe Haaransatz, der breite Mund, die vollen Lippen und die helle Haut erinnerten an den Baron ... als er noch gesund und attraktiv gewesen war. Jessicas weit auseinander liegende grüne Augen und das bronzefarbene Haar stammten aus entfernteren genetischen Quellen.
Wenn du nur wüsstest ... Mohiam erinnerte sich an das, was man ihr über den Plan der Bene Gesserit verraten hatte. Jessicas Tochter sollte eines Tages den Kwisatz Haderach zur Welt bringen – den Kulminationspunkt jahrtausendelanger sorgfältiger Zuchtwahl. Mohiam blickte dem Mädchen ins Gesicht und suchte nach einem verräterischen Zucken, nach irgendeinem Hinweis auf ihre historische Bedeutung. Du bist noch nicht für die Wahrheit bereit.
Dann sprach Jessica. Ihr Mund gab den Worten Gestalt, als sie ein Mantra aufsagte, das so alt wie die Bene-Gesserit-Schule war: »Jeder Angreifer ist eine Feder, die auf ihrer Bahn entlangschwebt. Wenn die Feder näher kommt, wird sie abgelenkt und entfernt. Meine Reaktion ist wie ein Lufthauch, der die Feder fortbläst.«
Mohiam trat zurück, als ihre Tochter plötzlich blitzschnelle Bewegungen ausführte. Aber Jessica musste ihre Muskeln immer noch zwingen, sich mit reflexhafter Leichtigkeit zu bewegen, während sie einfach zulassen sollte, dass es geschah.
Die Bewegungen des Mädchens waren besser als beim letzten Mal, konzentrierter und präziser. Jessicas jüngste Fortschritte waren beeindruckend, als hätte sie eine Erleuchtung gehabt, die ihren Geist geklärt und sie auf die nächste Stufe gehoben hatte. Doch Mohiam spürte immer noch zu viel jugendliche Energie und ungezügelte Intensität in ihr.
Dieses Mädchen war das Ergebnis einer niederträchtigen Vergewaltigung durch Baron Harkonnen, nachdem die Schwesternschaft ihn dazu erpresst hatte, eine Tochter für sie zu zeugen. Mohiam hatte noch während der Attacke ihre Rache vorbereitet und ihn mit einer schmerzhaften Krankheit infiziert, die ihn allmählich dahinsiechen ließ. Eine entzückend langsame Folter. Während des vergangenen Standardjahres hatte der Baron bereits einen Gehstock benötigt. Auf Fenrings Bankett war sie in großer Versuchung gewesen, dem fetten Mann zu erzählen, was sie ihm angetan hatte.
Aber wenn Mohiam es wirklich getan hätte, wäre es im Speisesaal der Residenz von Arrakeen zu einer zweiten Gewalttat gekommen. Und sie wäre viel heftiger als der Streit zwischen den Botschaftern von Ecaz und Grumman ausgefallen. Vielleicht hätte sie sogar ihre tödlichen Fähigkeiten gegen den Baron einsetzen müssen. Selbst Jessica hätte sich schnell und ohne große Mühe gegen den Mann – ihren eigenen Vater – durchsetzen können, obwohl ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen war.
Mohiam hörte das Surren einer Mechanik und sah, wie sich eine lebensgroße Puppe aus dem Boden schob. Die nächste Phase der Trainingsroutine. Blitzschnell wirbelte das Mädchen herum und enthauptete die Puppe mit einem einzigen Fußtritt.
»Mehr Finesse. Die tödliche Berührung muss eleganter und präziser sein.«
»Ja, Ehrwürdige Mutter.«
»Trotzdem bin ich stolz auf deine Leistungen.« Mohiam sprach in ungewöhnlich sanftem Tonfall, wofür ihre Vorgesetzten sie gerügt hätten, wären sie anwesend gewesen. Liebe, in welcher Form auch immer, war strikt untersagt.
»Die Schwesternschaft hat große Pläne mit dir, Jessica.«